Lesedauer: 2:30 min | Bei den Veränderungen, die auf uns zukommen, die höchstwahrscheinlich umfassende Umwälzungen auf vielen Ebenen sein werden, werden wir, die Bürger, eine entscheidende Rolle spielen. Aber was für eine Art von Bürger sind wir?
1914 veröffentlichte Heinrich Mann in einer Zeitung periodisch Texte aus seinem Roman Der Untertan. In diesem Roman beschreibt er den Aufstieg des untertänigen Patrioten und wilhelminischen preußischen Bürgers Dr. Diederich Hessling. Das Buch endet mit seiner pompösen Einweihung eines Standbildes des geliebten Kaisers Wilhelm II. (von ihm als Kaiser Wilhelm der Große tituliert), das von einem schweren Gewitter weggespült wird. Während dies ein vorweggenommener Ausgang des Ersten Weltkriegs gewesen wäre, fügt Heinrich Mann einen unvorhergesehenen Ausblick hinzu. Nach dem Unwetter wird Diederich zufällig Zeuge des Todes eines alten Revolutionärs von 1848. Es handelt sich um einen politischen Gegner, der auf seinem Sterbebett von seinen Angehörigen umgeben ist. Der alte Mann schaut Diederich in die Augen, bricht zusammen und stirbt. Vom Entsetzen gedämpft, rief die Frau des Ältesten: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“ Judith Lauer stand langsam auf und schloß die Tür. Diederich war schon entwichen.
Es gibt keine Gerechtigkeit in diesem Weltklasse-Roman. Er beschreibt eine absurde und widerwärtige Welt, die wir aus unserer heutigen Sicht als völlig unrealistisch abtun.
Aber, ist es das?
Diederich folgt nur den Regeln und der Kultur der Gesellschaft, in der er lebt. Sicher, er ist ein bisschen schlimmer als andere. Er ist untreuer, unterwürfiger, feiger, gemeiner, aber im Allgemeinen hält er sich an die Regeln.
Viele Bürger von heute tun genau dies. Sie gehorchen dem Gesetz, halten sich an die Regeln und die Kultur – und fördern eine ungerechte und zerstörerische Gesellschaft, die das Streben der zukünftigen Generation nach Glück in einer noch nie dagewesenen Weise gefährdet. Selbst in den liberalsten und gebildetsten Teilen unserer Gesellschaft sind viele Untertanen. Sie verteidigen ihre Privilegien mit dem Verweis auf das Gesetz und verstehen ihre Errungenschaften als wohlverdient trotz eines riesigen Vorsprungs. Solch eine selbstgerechte Sicht auf die Welt wird oft mit einem kurzen Wir können die Welt nicht retten erklärt.
Der sterbende alte Mann mit dem Namen Buck denkt anders. Als Revolutionär glaubt er an die Möglichkeit, die Welt zu retten oder zumindest zu einem besseren Ort zu machen. Untertanen empfinden das nicht so, weil sie die Welt bereits als einen guten Ort erleben. Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu ändern.
In Heinrich Manns Der Untertan erfahren wir, wie ein treuer Untertan entsteht.
„Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm.“
”Aus den Festen preßten sie gemeinsam vermittels Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu und gut.”
Wir haben Mitleid mit dem Jungen. Mit diesem Wissen verzeihen wir ihm später seine Stiefelleckerei und Unterwürfigkeit. Wir verstehen sein Handeln und erklären es mit den Umständen. Und doch ist alles falsch. Diederich ist der Schurke der Geschichte. Für den Leser trägt er die volle Verantwortung für alles Schlechte, Schädliche und Zerstörerische. Aber am Ende wird er mit allem davonkommen. Das ist genau das Denken vieler: Ich werde davonkommen.
Aber unsere Kinder werden es nicht.
Es wird für die Zukunft entscheidend sein, welche Art von Bürgern wir sein wollen – loyale Untertanen oder verantwortungsvolle Bürger.