Lesezeit: 3:45 | Wenn wir uns heute in der politischen Landschaft umsehen, fragen wir uns immer wieder, wie es kommt, dass so viele normale Leute, freundliche Menschen wie du und ich, unfreundliche, bigotte und antidemokratische Ideen unterstützen?
Warum schieben manche Menschen wissenschaftliche Erkenntnisse beiseite, folgen absurden Lügenketten und tragen sie weiter? Sind sie im Grunde ihres Herzens böse Leute? Oder sind sie nur einfache, fehlgeleitete Geister? Und muss ich, der ich für Menschlichkeit und Freiheit kämpfe, mich davon distanzieren und sie als Feinde betrachten und bekämpfen?
Bekanntlich nehmen wir alle unsere Umgebung gewichtet wahr. Wir wissen zum Beispiel, dass ein Gegenstand schwerer ist, können aber nicht beurteilen, ob er doppelt so schwer ist. Dieses Phänomen wird noch deutlicher, wenn wir versuchen, die Helligkeit zu bestimmen. Befinden wir uns in der Dämmerung, können wir relativ gut beurteilen, ob ein bestimmtes Objekt doppelt so hell beleuchtet ist wie die Umgebung. Im hellen Sonnenlicht ist dies jedoch selbst für den erfahrenen Fotografen unmöglich, da wir dort die doppelte Helligkeit nur als ein klein wenig heller wahrnehmen. Genauso wenig können wir gemessene Schallpegel beurteilen. Aber wir haben eine starke Meinung über ihre empfundene Lautstärke.
Lautheit ist der psychoakustischer Begriff für einen wahrgenommenen Lautstärkepegel und steht nicht unbedingt im Zusammenhang mit der gemessenen Lautstärke. In der Welt der Musik ist Lautheit das Maß aller Dinge. Wenn ein Musikstück oder der Soundtrack eines Films in einem Tonstudio abgemischt wird, steht die Lautheit im Vordergrund. Wenn das Musikstück laut genug ist, ist es für unsere Ohren präsent und hat eine Chance auf dem Markt. Deshalb gibt es inzwischen auch remasterte Versionen alter Popsongs.
Zu diesem Zweck werden bestimmte Frequenzbereiche komprimiert und hervorgehoben. Am Ende erscheint das Musikstück in unseren Ohren viel lauter, oft doppelt so laut wie das gleiche Stück ohne diese Optimierung bei gleicher gemessener Lautstärke. Etwas Ähnliches erleben wir auch bei Bildern, wenn auch nicht ganz so auffällig. Ein nach allen Regeln der Kunst farbkorrigiertes und kontrastoptimiertes Foto wirkt stärker als das Original, obwohl die Leuchtdichte gleich ist (was von der Lichtquelle abhängt, die das Bild beleuchtet). Diese Optimierungen spiegeln keine objektiven physikalischen Regeln wider, sondern sind Verfahren, die durch Versuch und Irrtum und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der menschlichen Wahrnehmungsforschung abgeleitet wurden. Sie sind heute der professionelle Standard in der Mediengestaltung (vgl. Weber-Fechner-Gesetz). Sie sind keine linearen Verstärkungen, wie das Aufdrehen des Lautstärkereglers am HiFi-Verstärker oder das Einschalten einer weiteren Lampe zu Hause, sondern wirken gewichtet auf unseren Wahrnehmungsapparat, z. B. in logarithmischen Kurven.
Wir erkennen diese Manipulationen in der Komposition von Umwelterfahrungen jedoch nicht, sondern fügen sie unerkannt in unser lineares Weltverständnis ein. So ist z. B. die Musik lauter und das Bild ist viel präsenter, obwohl physikalisch gemessen die Lautstärke und die Leuchtdichte nur kaum oder gar nicht verändert sind. Realität ist also eine empfundene Vorstellung der wahren Wirklichkeit. Manipulierte Nicht-Wahrheiten können so als Tatsachen in die wahrgenommene Realität integriert werden.
Deshalb werden im politischen Diskurs Themen in den Vordergrund gerückt, die diese exponierte Stellung im Gesamtkontext nicht verdienen, aber in den Köpfen der Menschen besetzen. Ein typisches Beispiel ist die Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Die Wahrnehmung der Realität durch Teile der Bevölkerung und die gemessene Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft stießen auf eine erhebliche Diskrepanz. Dabei entstand bei vielen Menschen ein neu definiertes Selbstbild, das ohne ein neu angepasstes Verständnis ihrer Realität nicht denkbar wäre.
Womit wir bei der Frage wären, wie man mit Menschen umgeht, deren von ihnen als Wahrheit empfundenes Weltbild kaum der Realität entspricht. Man könnte, wie in der Radio- und Fernsehwerbung üblich, mit gleicher Lautstärke antworten und dabei ebenfalls die Realität in ihrer differenzierten Ausprägung vereinfachen und verzerren (nur in eine andere Richtung) und einen Krieg des Lärms führen, in dem wir uns schon teilweise befinden.
Oder wir bemühen uns um einen eher linearen Ansatz, der die Dinge so bezeichnet, wie sie sich darstellen. Im politischen Bereich nennen wir das die Stimme der Vernunft. Denn die Vernunft ist nicht in eine manipulative Richtung gewichtet, sondern wird mit Fakten und Argumenten abgewogen, die später zu sinnvollen Maßnahmen führen können. Das steht in krassem Gegensatz zum Begriff der Ideologie, die naturgemäß eine Folge einer Idee ist und eine stark verzerrte Sicht auf eine angenommene Realität hat und daher niemals vernünftig sein kann.
Da wir Menschen alle Sklaven unserer Wahrnehmungen sind (was es schwierig macht, die objektive Realität zu sehen), sollten wir etwas Verständnis für Menschen aufbringen, die wissenschaftliche Erkenntnisse beiseite schieben und absurden Lügenketten folgen, wenn diese Bestandteil ihrer wahrgenommenen Realität geworden sind. Sie müssen nicht böse oder nur dumm sein. Sie hören einfach nur unglaublich laut eine bestimmte Form von Musik.
Ich bin zuversichtlich, dass viele dieser Menschen für andere Musik empfänglich wären, wenn sie gut in ihre persönliche Realität integriert werden könnte. Wir müssen nur herausfinden, was diese Themen sind und sie dann überzeugen. Schließlich sind wir Menschen rationale Wesen (die laut Oscar Wild immer dann die Ruhe verlieren, wenn wir aufgefordert werden, nach dem Diktat der Vernunft zu handeln).