Lesezeit: 3:30min | Links ein Foto einer abstrakten farbigen Sonnenlichtprojektion auf dem Boden des Kölner Doms, die das Gerhard-Richter-Fenster erzeugt, wenn die Sonne scheint. Dieses Thema steht schon lange auf meiner Liste, aber ich habe gezögert, es aufzuschreiben. Zu komplex, zu umfangreich, dachte ich. Aber ich habe in letzter Zeit ein wenig über Kontraste nachgedacht. Vielleicht machen meine Gedanken ja etwas Sinn.
Der offensichtliche Ausgangspunkt wäre der hell-dunkel Kontrast, der die Verteilung von dunklen zu hellen Teilen definiert. Wir alle kennen das aus der Schwarz-Weiß-Fotografie und unserem visuellen Empfinden von Dunkelheit und Helligkeit. Aber lassen wir das mal beiseite und konzentrieren uns nur auf die Farben.
Zunächst einmal sollten wir uns fragen: Was genau ist Kontrast? Ich denke, es ist Folgendes: Kontrast beschreibt die bestimmenden Umstände in unserem Leben. Es ist schwer, Dinge ohne Gegenstücke zu definieren. Es gibt keine Erde ohne Himmel, keine Frau ohne Mann, kein einzelnes Ding ohne Kontext. Die Werte in den Teilen des Kontextes sind der Kontrast. Sie befinden sich in einem nie endenden Diskurs.
Wie wir wissen, ist ein Diskurs ein Gespräch über Dinge, bei dem die Meinungen möglicherweise nicht konfliktfrei übereinstimmen. Im Diskurs wollen wir ein Ergebnis erreichen, bei dem verschiedene Ansichten zusammenkommen und ein Ergebnis schaffen, das weitere Handlungen beeinflussen kann. Wie wir von Ludwig Wittgenstein gelernt haben, bildet Sprache Bilder in unserem Kopf ab und umgekehrt. Bilder in unserem Kopf oder Bilder aus dem wirklichen Leben zeigen Dinge, die für uns eine Bedeutung haben. Diese Bedeutungen können für uns so lebenswichtig sein, dass sie alle anderen Informationen überlagern können. Das weinende Gesicht eines Babys kann die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so dass wir die drohende Gefahr eines roten Busses übersehen, der auf uns zurast. Wenn es kein weinendes Baby gäbe, wäre der Bus laut und deutlich zu sehen, und wir würden schnell handeln. (Ich bin sicher, Sie haben jetzt ein lebhaftes inneres Bild von dem weinenden Baby und dem drohenden Unfall).
Was hat das mit Farbkontrast zu tun? Es macht deutlich, was Farbkontrast kann und was er nicht kann. In einem Bild kann der Kontrast nicht gegen den Inhalt ankämpfen. Der Inhalt ist immer stärker und hat daher in unserem Diskurs über Farbkontrast nicht viel zu sagen. Aber wenn wir den Inhalt weglassen, wenn wir das weinende Babygesicht und den schleudernden Bus bis zur Unkenntlichkeit verwischen (wie die Farben im Richter-Fenster) und uns nur auf die Farben konzentrieren, erkennen wir zusätzliche Informationen. Diese zusätzlichen Informationen füttern unsere Gefühle; sie verrichten ihre Arbeit unbewusst. Informationstechnisch spielt es keine Rolle, ob der Bus rot oder weiß ist oder ob das Baby eine gelbe oder blaue Mütze trägt. Es gibt einen Bus, ein Baby und eine Mütze. Aber in Bezug auf die Farbe und damit unser Unterbewusstsein spielt es eine Rolle.
Die rote Farbe des Busses hat eine viel höhere Warnkraft als weiße Farbe es hätte. Der Hautton des Babys und damit sein Gesicht hat mit einer blauen Mütze eine stärkere Wirkung als mit einer gelben Mütze. Wenn wir uns das Bild des weinenden Babys mit einem roten Bus und einer blauen Mütze vorstellen würden, bekämen wir eine viel stärkere Vorstellung von der Geschichte, also dem Inhalt, als wenn wir uns das Bild mit einem weißen Bus und einer gelben Mütze vorstellen würden. Letztendlich spielt der Farbkontrast also eine Rolle, aber keine große. Er kann den Inhalt betonen oder verdecken, aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Wie bei der Sprache, den Worten und Sätzen, befinden sich verschiedene Farben in einem Bild im Diskurs. Es hängt von den beteiligten Farben ab, ob es sich um einen Diskurs der starken Meinungen und Konflikte oder eher um einen Diskurs der Harmonie und des Wohlbefindens handelt. Ein Farbkontrast hängt stark von der Kategorie ab, in die die beteiligten Farben fallen. Wir alle würden zustimmen, dass ein roter Bus vor einer blauen Skyline eine höhere Schlagkraft hat als ein grüner Bus vor einer blauen Skyline. Das liegt daran, dass Rot eine Signalfarbe ist und unweigerlich unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, während Grün in der westlichen Kultur vor allem eine Konsumfarbe mit kaum Signalwirkung ist.
Meiner Meinung nach gibt es nur einen Farbkontrast, den man kategorisieren kann: den warm-kalten Farbkontrast. Was wir als warme Farbe definieren und wo wir die Grenze zu kühlen Farben ziehen, liegt im Auge des Betrachters und ist somit subjektiv. Aber wir würden uns alle darauf einigen, dass Orange warm ist und Himmelblau eher kalt wirkt. Der Sonnenuntergang am Strand wäre ein perfektes Beispiel für einen Warm-Kalt-Kontrast und wurde schon über eine Milliarde Mal fotografiert. Ein Sonnenuntergang hat kaum einen Diskurs oder gar Inhalt. Es ist eine No-Story. Aber wir lieben ihn um der Farbe willen und wegen des starken Farbkontrasts – alles getrieben von unserem Unterbewusstsein und unserer Lust an Farben. Unweigerlich zücken wir unsere Handys und fotografieren diesen Sonnenuntergang, immer und immer wieder. Das ist die Macht der Farbe; es ist alles in unserem Thymos Francis Fukuyama würde argumentieren, jener Teil von uns, in dem Gefühle wie Wut, Liebe oder Glück residieren. Wir sollten mehr über Farben sprechen.