Lesezeit: 3:15 | Mein Leben, meine Freiheit und mein Streben nach Glück waren noch nie so sehr ein Thema wie heute. Warum ist das so?
Die Gesellschaft wird von vielen als eine problematische und krankmachende Umgebung gesehen, in die man sich schon länger nicht mehr bequem einfügt. Das Leben ist in vielerlei Hinsicht prekär geworden, vom Arbeitsplatz bis zur Nachbarschaft, und kann herausfordernd sein wie nie zuvor. Wie gut es einem finanziell geht, spielt mehr denn je eine entscheidende Rolle. Das sehen wir deutlich am Umgang mit der Coronavirus-Pandemie. In wohlhabenden Stadtgebieten sind die Menschen eher bereit, die Regeln der Pandemie zu befolgen als in ländlichen Gebieten und weniger wohlhabenden Stadtteilen. Freiheit ist das letzte Aufgebot an Selbstachtung – die Menschen können nicht unendlich viel ertragen.
Doch selbst wohlhabende Menschen empfinden den rasanten technologischen Fortschritt oft eher als Bedrohung denn als willkommene Ergänzung. All das ist der vergiftete Zuckerguss einer schon lange andauernden Entwicklung: die Fragmentierung der Familien, die das Verschwinden lebenswichtiger Familienbande verursacht.
Freundschaften haben diese traditionellen Bindungen ersetzt. Aber die Bedeutung des Begriffs Freundschaft ist mittlerweile so ausgehöhlt, dass wir Menschen, die wir noch nie im echten Leben gesehen haben, als unsere Freunde bezeichnen. Ihr Gesicht anhand eines Fotos zu kennen und ein paar Zeilen gelesen zu haben, die sie in den sozialen Medien geschrieben haben, scheint als Kriterium auszureichen. Dieses race to the bottom in sozialen Beziehungen wird durch schiere Verzweiflung verursacht.
Die Menschen sehnen sich nach der Vergangenheit, nach längst vergangenen Werten, waten in Nostalgie. Das deutsche Sprichwort Gestern war alles besser hat mehr Bedeutung denn je, was ein Grund für den Erfolg der populistischen Bewegungen, der religiösen Rechten und der Rechtsextremen ist. Die Kluft zwischen Landbevölkerung und Stadtbewohnern wird immer größer.
Aber wir lagen weit daneben, wenn wir diese Themen nur an die Landbevölkerung adressierten. Die Wahrheit ist, dass auch Stadtmenschen betroffen sind, wenn nicht sogar noch mehr – nur baden sie nicht in reaktionären Bewegungen. Die Situation der hippen, liberalen Stadtbewohner lässt sich nicht beschönigen – ganz im Gegenteil.
Während die Landbevölkerung in ihrer Verzweiflung den sozialen Zusammenhalt durch die Pflege traditioneller sozialer Arrangements sucht und oft scheitert, wie die Fentanyl-Pandemie in den USA erschreckend zeigt, neigen liberale Städter dazu, erprobte Werte gegen käufliche Glaubensinhalte und Fetische zu tauschen.
In den Städten sind die sozialen Bindungen häufig so brüchig und schwach, dass man nur noch an sich selbst Halt finden kann. Der Markt weiß das natürlich und verkauft uns Yoga (Glaube), iPhones (Fetisch) und viele andere Dinge, die uns in den stürmischen Zeiten von heute etwas Halt geben sollen. Aber das Einzige, was wächst, ist das unsichere Gefühl, anderen überlegen zu sein und das Bedürfnis, den eigenen Selbstwert durch Abgrenzung (z.B. vom dummen Landei) und den Kauf von noch mehr Fetischen zu erhöhen. All das ist kaum besser als der weit verbreitete Missmut mit seiner gefährlichen Fremdenfeindlichkeit und Bigotterie auf dem Lande.
Obwohl wir alle wissen, dass ein iPhone uns keine sozialen Bindungen ermöglicht, brauchen wir dringend das neueste Modell. Wir wissen zwar, dass Yoga gut für die Gesundheit ist, aber ein funktionierendes Wertesystem wie Familie und echte Freundschaften nicht ersetzt. Trotzdem investieren wir ein Vermögen in Coaches und dubiose Versprechen, die im Internet verkauft werden. Wir wissen zwar, dass uns Social Media im Vergleich zu bewährten Beziehungen im realen Leben keinen inneren Frieden schenkt. Aber wir sind schwer abhängig und glauben das Gegenteil.
Wenn wir wissen wollen, wie schlimm unsere Erkrankung ist, könnten wir Leute auflisten, die wir zu unserer Geburtstagsparty einladen wollen. Das Fetischisieren mit mehr Gadgets und mehr Social-Media-Posts wird unsere Party-Location nicht füllen. Es gibt kein Paradies im „Ich“, aber vielleicht im „Wir“. Es ist an der Zeit, herauszufinden, was das sein könnte, das Wir.
Für den Anfang könnte sich etwas politisches und soziales Engagement lohnen. Aktivitäten wie in einer Band oder einem Amateurtheater zu spielen, mit anderen wandern oder segeln zu gehen, Fußball oder Tennis zu spielen und natürlich Yoga in einer Gruppe zu machen, ist eine bewährte Medizin, um die Zerfaserung der Beziehungen zu mildern und die Gesellschaft wieder zu verbinden.
Auf diese Weise werden wir Bildschirmzeiten reduzieren. Wir werden mehr Geld für soziale Aktivitäten haben, indem wir auf das nächste schicke iPhone oder ein anderes ähnliches Gerät verzichten. Unsere tägliche Zeit mit vergifteten sozialen Medien wird auf eine gesunde Dosis sinken. Und unser Streben nach Glück wird endlich erfolgreich sein.