DebatteMan kann sich nicht selber in die Sklaverei verkaufen

Man kann sich nicht selber in die Sklaverei verkaufen

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Lesezeit: 3:45 | Aber genau das tun wir, und es ist illegal.

Seit einiger Zeit haben mein Bruder Albrecht und ich die folgende These aufgestellt: Alle Daten, die bisher von uns Menschen gesammelt wurden, müssen gelöscht werden, und alle Anwendungen des maschinellen Lernens und der KI-Software müssen ohne unsere Daten auf neuen Algorithmen basieren, sonst ist unsere Demokratie in großer Gefahr.

Photography: Olga Kriger

Wenn ich in eine Kirche gehe und mein Telefon mitnehme, werden gewisse Programme meinen Aufenthaltsort erkennen und diesen an Big Data weiterleiten. Wenn ich am nächsten Tag mich mit einem Kernspintomographen untersuchen lasse, erfährt das Big Data vom Telefon der Ärztin, die den Tomographen betreut.

Photography: Romaset, Getty Images

Mit Bewegungsprofilen wie diesen erfährt Big Data ohne meine Zustimmung die erstaunlichsten Dinge über mich. Dazu gehört die Beantwortung der Frage, welcher Konfession ich wahrscheinlich angehöre und weiß, denn bevor ich ins Krankenhaus ging, habe ich im Internet unter dem Stichwort Rückenschmerzen nachgeschlagen, dass ich mit ziemlicher Sicherheit einen Bandscheibenvorfall hatte.

Persönlich sensibel zu dem Thema wurde ich, als ich letztes Jahr Glasgow besuchte. Wir saßen in einem Restaurant und aßen zu Abend. Wie wir alle hatte auch unser junger Mitarbeiter sein Telefon dabei und zusätzlich Instagram offen. Ein kurzer Teil unseres Gesprächs ging um Filmobjektive und den Optikhersteller Zeiss. Keine 15 Minuten später schlug in seiner Instagram App eine Werbung von Zeiss zum Thema Zielfernrohre mit einem lauten Ping auf. Wir sind wohl von Instagram abgehört worden, wie anscheinend andere Instagram Nutzer auch, was Gerichtsprozesse zu ähnlichen Fällen nahelegen.

Diese Unverfrorenheit orwellschen Ausmaßes ist symptomatisch für eines der größten Probleme unserer Zeit: die Verwendung unserer Daten und die Frage, wem sie gehören.

Während Ersteres schwer zu klären ist, weil unklar ist, inwieweit wer was mit meinen Daten macht, ist Letzteres letztlich einfach: Meine Daten gehören mir. Sie gehören mir, wie ich mir selbst gehöre, weil sie Teil meiner Existenz sind, ähnlich wie mein unvermeidliche CO2-Fingerabdruck. Nur mein Tod kann die Produktion meiner Daten stoppen. Und selbst dann sind die Chancen hoch, dass ich in irgendeiner Form weiter digital existiere.

Photography: Bunyos, Getty Images

Es stellt sich also die Frage, ob ich meine Daten verkaufen oder abtreten kann, wenn meine Daten ein Teil meiner Person sind. Das deutsche Grundgesetz hat zur Unveräußerlichkeit von mir selber eine klare Meinung. Es sagt in Artikel 1, Absatz 2: Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Eins der zentralen Menschenrechte ist die Freiheit und deswegen darf ich z.B. nicht gegen Geld meine Freiheit verkaufen und mich in die Sklaverei begeben. Sind meine Daten ein wesentlicher Teil meines modernen Menschenseins, stellt sich die Frage, ob ich sie überhaupt verkaufen darf. Sind sie aber wie Haare ein unwesentlicher Teil von mir, der nachwächst und mit geringem Schaden und überschaubaren Konsequenzen verkauft werden kann, dann wäre unser Erlebnis in Glasgow eine absehbare Konsequenz aus der Zustimmung meines Mitarbeiters gegenüber Instagrams, über seine Daten verfügen zu dürfen. Man könnte sagen, selber Schuld, Du hättest ja Deine Haare nicht abschneiden und verkaufen müssen.

Picture: Pawel Gaul, Getty Images

Aber: ich habe dem nicht zugestimmt und unser andere Teamkollege am Tisch auch nicht. Und jetzt, weil wir alle zusammen an diesem Ort länger waren, weiß Big Data, dass ich mich für Zeiss Filmobjektive interessiere, obwohl ich nie meine Zustimmung dazu abgegeben habe, dass sie das wissen. Aber dabei wird es nicht bleiben, denn wir haben uns noch über viele andere Dinge unterhalten, Dinge die privat sind und die niemanden was angehen, z.B. ob mein Rücken ein ernsthaftes Problem hat.

Aber altmodisches Abhören ist nicht nötig, um den hippokratischen Eid außer Kraft zu setzen, wenn Big Data auch ohne Mikrofon und Spracherkennung ohne meine Zustimmung alle wichtigen Dinge über mich erfährt.

Photography: Lawrence Long, Getty Images

Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO besagt Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seine Korrespondenz oder Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder hat das Recht auf den Schutz des Gesetzes gegen solche Eingriffe oder Angriffe.

Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass Artikel 12 der UNO-Menschenrechtserklärung mit der heutigen digitalen Welt nicht vereinbar ist. Artikel 12 wird milliardenfach pro Sekunde gebrochen. Diese Verstöße sind Eingriffe in unsere Freiheit, weil sie anderen Einblicke in unser Leben gewähren, die sie uns niemals auf ihr Leben oder ihre Organisationen gewähren würden. Mit Big Data, mit Facebook, Amazon, Google und vielen anderen ist bereits ein autoritärer Staat im Staat geschaffen worden, der mehr über uns weiß als unser Arzt, unser Anwalt, unsere Geschwister, unsere Eltern und Kinder und sogar als wir selbst. Und Big Data verdient enorm viel Geld, mehr als jeder andere Wirtschaftssektor mit den höchsten Wachstumsraten von allen. Wo Geld verdient wird, sammelt sich Macht an. Am Ende der Entwicklung wird sich die Frage stellen: Demokratie oder Oligarchie. In Russland und China ist diese Frage längst entschieden.